Grenzen der Modernisierung.
Benachteiligung, Aufstieg und Ausschluss jüdischer Gelehrter im Sachsen des 19. und 20. Jahrhunderts
Ziel des Vorhabens ist die Erstellung eines Personenkatalogs jüdischer, in Sachsen wirkender, Gelehrter des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Datensammlung soll biografische Skizzen mit Informationen zu Bedeutung und Werk verbinden. Zu diesem Zweck werden Wissensbestände und bisher verstreute digitale Quellen über entsprechende Personen zusammengeführt. Im Ergebnis wird ein systematisierter Datenbestand für die Forschung sowie eine interessierte Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Jüdische Gelehrte in Sachsen.
Teilhabe, Benachteiligung und Ausschluss
Eine Online-Ausstellung
Das Projekt „Jüdische Gelehrte in Sachsen“ ist Teil der vom Sächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst initiierten Förderinitiative „Virtuelle Archive für die geisteswissenschaftliche Forschung in Sachsen“. Im Rahmen eines von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (SAW) koordinierten Leitprojektes zum Aufbau einer Sächsischen Gelehrtendatenbank werden sechs landesfinanzierte geisteswissenschaftliche Institute des Freistaates kooperativ nutzbare Datenarchive aufbauen. In diesem Zusammenhang erstellt das Simon-Dubnow-Institut einen Personenkatalog jüdischer, in Sachsen wirkender Gelehrter des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Datensammlung wird biografische Skizzen mit Informationen zu Bedeutung und Werk verbinden und entlang einer systematisierten Erkenntnisperspektive in Form eines Webportals für die Forschung und eine interessierte Öffentlichkeit aufbereiten.
Das Projekt verfolgt nicht in erster Linie das Ziel, die jüdischen Beiträge zur sächsischen Wissenschafts- und Geistesgeschichte herauszustellen. Vielmehr soll das biographische Material zwischen den historischen Beschreibungskategorien Aufstieg und Erfolg einerseits und Benachteiligung und Ausschluss andererseits entfaltet werden. Der Blick auf Sachsen verspricht dabei gleich aus mehreren Gründen Erkenntnisgewinn. Im 19. Jahrhundert gehörte das Königreich zu den am weitesten industrialisierten Gebieten im deutschsprachigen Raum. Nach seiner Eingliederung ins Deutsche Reich erfuhr Sachsen einen enormen ökonomischen und gesellschaftlichen Modernisierungsschub, der sich nicht zuletzt in einer rasanten Entwicklung des Bildungswesens und der Wissenschaft niederschlug. Für Juden brachte das nicht nur die formale rechtliche Gleichstellung, sondern auch neue Einkommens- und Lebensperspektiven mit sich. Die bis dahin in den jüdischen Gemeinden vorherrschenden Bildungsvorstellungen änderten sich innerhalb kürzester Zeit; jüdische Schüler drängten verstärkt an Stätten der höheren Bildung. Ihre Begeisterung für die bürgerliche Wissenskultur zeigte stets auch den Wunsch an, die oft fortbestehende gesellschaftlicher Benachteiligung zu überwinden. Denn obwohl Sachsen ökonomisch und demografisch als Prototyp eines modernen Industriestaates erschien, blieb es politisch-kulturell ein Musterland der Reaktion, das von Konservativismus geprägt war. Auch der moderne Antisemitismus begann sich in Sachsen frühzeitig zu organisieren. Mit der Darstellung der Geschichte jüdischer Gelehrter gerät somit der vielfach unabgeschlossene und später verstellte Weg der jüdischen Akkulturation und Assimilation im Bereich der sächsischen Wissenschaftsgemeinschaft in den Blick. Darüber hinaus können vermittels der Geschichte jüdischer Gelehrter in Sachsen der vielschichtige Prozess der Modernisierung und seine inhärenten Widersprüche ausgeleuchtet werden.
In einem ersten Schritt widmet sich das Projekt den jüdischen Wissenschaftlern an der Universität Leipzig. Dies ist schon aufgrund der herausgehobenen Stellung der Leipziger Hochschule naheliegend. Sie war lange Zeit die einzige Landesuniversität und übte eine große Anziehungskraft auf Studierende aus dem In- und Ausland aus. Eine Reihe bald prominent werdender jüdischer Gelehrter studierte in Leipzig, darunter Franz Rosenzweig, Martin Buber, Émile Durkheim, Marc Bloch und Edmund Husserl. Hinzu kamen Promovenden wie Ignaz Goldziher, Selig Brodetsky, Bernard Katz und Josef Burg. Als Hochschullehrer wirkten etwa Julius Fürst, Felix Hausdorff, Hans Mayer und Ernst Bloch in Leipzig. In einem zweiten Schritt werden auch andere, weitaus später gegründete sächsische Hochschulen wie die Technische Universität Dresden oder die Handelshochschule in Leipzig mit einbezogen werden. Sie wurden gerade im Zuge der industriellen Modernisierung und der steigenden Bedeutung akademischer Berufe ebenfalls für jüdische Wissenschaftler attraktiv.
Das Erkenntnispotential der Geschichte jüdischer Gelehrte wird auf der geplanten Website in Form eines thematisch breiten Dachtextes, spezifisch behandelter Schlüsselbereiche und biographischer Skizzen entfaltet. Zudem soll in Kooperation mit dem Leipziger Universitätsarchiv das biographische Material mit themenrelevanten Datensätzen der Leipziger Universität verknüpft werden. Anhand der Matrikel jüdischer Studierender (1798–1909), der Informationen über die Entziehung akademischer Grade von 1937 bis 1944 und der Personalverzeichnisse der Hochschullehrer lassen sich über interaktive Karten und Grafiken der Website Fragen an das Datenmaterial stellen. So können etwa die Herkunftsorte der jüdischen Studenten, die beliebtesten Studienfächer, Doktorväter und sich in Leipzig kreuzenden Lebenswege prominenter jüdischer Gelehrter dargestellt werden. Mit der Verbindung von datenbasierter Wissensrepräsentation, überblicksartigen Texten und biographischen Skizzen bietet sich ein für Studium, Forschung, Lehre und Unterricht nutzbarer Zugang zur jüdischen Geschichte in Sachsen und mit ihr eine Erkenntnisperspektive auf die Moderne und ihre Verwerfungen.